Predigt am Ostersonntag 2025 in der Versöhnungskirche in Travemünde
Eine Vorbemerkung: Ich habe mich daran erinnert, dass vor genau 10 Jahren eine Oster-Kantate in St. Lorenz in Lübeck uraufgeführt wurde. Das Libretto, den Text, hatte ich geschrieben, vertont wurde sie von dem befreundeten Komponisten Dirk Uka. Zwei Jahre später gab es eine Aufführung in der Lübecker Lutherkirche. Ich werde ein paar gereimte Verse aus der Kantate zitieren – und wir werden den Predigttext für heute aus dem Johannesevangelium nachher als Teil der Kantate hören.
Eine Eingangsfrage an uns alle: Unter welchem Vorzeichen sehen Sie das Ganze Ihres persönlichen Lebens oder, wie ich auch sagen könnte, das Leben überhaupt? Steht davor ein Pluszeichen – oder steht davor ein Minuszeichen? In musikalischer Sprache: Ist das Leben für Sie eher in Dur gestimmt oder eher in Moll?
Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer sah das Leben eher pessimistisch, also mit einem Minus-Vorzeichen, oder beschrieb es eher in Molltönen: „Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein mußte, um mit knapper Not bestehen zu können. Wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen.“ So Schopenhauer 1819. Das Leben, die Welt – knapp am Abgrund. Man kann die Beweislage für diese Weltsicht als erdrückend beschreiben: Kriege, Katastrophen, Ausbeutung der Natur, Hunger, Flucht, Vertreibung – wir alle kennen diese rote Liste der erschreckenden Befunde. Dazu gehören auch die Selbstmordattentäter oder die Amokläufer. Das eigene Leben und das Leben von anderen scheint in Grenzsituationen unserer menschlichen Existenz nichts wert zu sein, seine mögliche Vernichtung wird in Kauf genommen, was auch immer der Grund sein mag.
Ja, leider ist es so, dass viel Schlimmes; Schicksalhaftes nicht etwa durch die Natur kommt – das auch –, sondern vom Menschen selbst verursacht wird. Das Eis der Zivilisation ist brüchig, wie ein anderer großer Skeptiker, Sigmund Freud, schrieb.
Ein gewichtiger Teil der Entstehungsgeschichte des christlichen Glaubens passt in das moll-gestimmte Weltbild: Die letzten Tage des Jesus von Nazareth in Jerusalem sprechen eine beredte Botschaft von dem, was Menschen sich und gerade denen, die es gut gemeint haben, antun: Verhaftung, Verleugnung, Folter, Tod am Kreuz, Flucht der Jünger.
„Jesus, Gott und Mensch verbunden,
hat erschreckt, die Herrscher waren.
Bis aufs Blut gequält, geschunden,
hat er Volkes Hass erfahren.
Im Grab lag der, der Gott so nah,
und einen neuen Geist uns brachte,
in Gott das Bild der Liebe sah,
Menschen nahm, wie Gott sie dachte.“
Für einen Moment sieht es so aus, als sei’s das gewesen. Aus. Vorbei.
Wer sich das eingesteht und die Lage des Menschen und der Welt so dunkel sieht wie etwa Schopenhauer und Freud, wird sich trotzdem fragen müssen, warum er dennoch lebt. Er muss nach Quellen eines „Dennoch“ suchen, um etwas gegen das Leben am Abgrund in der Hand zu haben. Dafür gibt es schon Angebote. Ich zitiere zwei Beobachtungen:
1. Werbung einer großen Versicherung. Da sagt eine junge Frau: „Natürlich freue ich mich auf das, was kommt. … Aber egal, wo ich dann bin: Zu wissen, dass immer jemand für mich da ist, das ist echt ein gutes Gefühl.“ „Das nennen wir - die Versicherung - das Schutzengel-Gefühl.“
Wir stellen fest: Da wird religiöse Sprache benutzt, um so etwas wie Sicherheit aufzubauen. Und spüren wohl auch, wie lächerlich und armselig diese Werbung klingt – und dass der Abschluss etwa einer „Lebensversicherung“ kaum ausreicht, um dem Abgrund ein „Dennoch“ entgegenzusetzen.
Das 2. Bespiel ist fast noch absurder:
Sepp Blatter, Präsident des Fußballweltverbands FIFA, hat vor seiner 5. Amtszeit verkündet: „Die FIFA ist durch die positiven Emotionen, die der Fußball auslöst, einflussreicher als jedes Land der Erde und jede Religion.“ Und unter Blatter werde die FIFA „mehr Friede, Gerechtigkeit und Gesundheit auf der Welt“ schaffen.
So sehr ich Fußball mag: Dass eine korrupte Institution, der es, wie vieles andere im Sportbetrieb, nur um Geld und Einfluss geht, die Welt retten will, das ist schon aberwitzig. Es zeigt aber auch, wie schwer es ist, ein tragfähiges „Dennoch“, einen Einspruch gegen den Abgrund, zu finden.
Ich habe großen Respekt vor Menschen, die versuchen, für sich und auch für andere dieses „Dennoch“ zu leben. Die aus philosophischen, ethischen und politischen Modellen heraus es wagen, gegen den Abgrund zu protestieren und Alternativen für ein friedlicheres und gerechteres Leben auf dieser Erde zu entwickeln.
Jetzt frage ich an diesem Ostersonntag mich selbst und uns: Ist auch die Osterbotschaft des Christentums, ist auch der christliche Glaube insgesamt als „Dennoch“ gegen den Abgrund zu verstehen?
Hören wir den Ausschnitt aus der Osterkantate, der den Predigttext wiedergibt:
(Ausschnitt Oster-Kantate)
Zunächst tun sich weitere Abgründe auf: Nach der Kreuzigung ist der Stein vor Jesu Grabkammer weggewälzt, der Leichnam ist nicht mehr da.
„Nach dem Kreuz nun Grabesleere,
trostlos, bang, mein Herz will brechen…“
singt Maria Magdalena in der Kantate.
Und dann kommt ein „Dennoch“, eine Gegenbewegung: Nach dem Johannes-Evangelium geschieht durch die eine einmalige Nennung ihres Namens „Maria“ durch den, den sie eben noch für den Gärtner hielt, eine Verwandlung. Nun sieht sie den gekreuzigten Jesus neu – als von Gott Auferweckten, der nun der Christus ist. In dieser „Magdalenensekunde“, wie der Schriftsteller Patrick Roth sie nennt, geschieht Ostern.
Roth schreibt: „In den Augen dieser leibhaftig sehenden Frau, kommt Christus zur Welt, als Auferstandener jetzt. Und damit wird Magdalena selbst zu einer Auferstandenen – in diesem ihrem Moment der Bewusstwerdung.“
Die Magdalenensekunde: das ist die Sekunde der Wiedererkennung: Mensch und Gott werden einander wieder bewusst.
Nun kann auch der andere Jünger, den Jesus liebgehabt hat, „glauben“, nun werden die Jüngerinnen und Jünger, die eben noch verzweifelt waren, ausgesandt, um den Friedensgruß zu leben.
„Wunderbar ist Gottes Macht:
Christus lebt, ist für uns da.
Frieden hat er uns gebracht,
weiter wirkt, was uns geschah“
Auch wenn es in der Geschichte des Christentums immer wieder schlimme Irrwege gegeben hat: Seit Ostern geht ein großes „Dennoch“ durch die Herzen und Gehirne derer, die sich in der Nachfolge des Jesus Christus wissen. Sie werden sich – und das geschieht ja in unserer Zeit immer häufiger – mit den „Dennochs“ von Menschen anderer Religionen und eben auch denen von nichtreligiösen Menschen verbinden.
Aber ich möchte noch einen anderen Gedanken wenigstens andeuten:
Angesichts der Weltsicht des großen Minus vor der Lebensklammer und der Mollstimmungen hatte ich von den „Dennochs“ gesprochen. Erst die Einsicht in den Abgrund und in die Abgründe – dann die Stimmen des Glaubens, mit denen dagegengehalten wird.
Wie wäre es, wenn es uns Christinnen und Christen gelänge, die Vorzeichen und die Stimmung umzukehren? Das hieße: Vor unserem Leben und dem Leben überhaupt zunächst ein Pluszeichen zu setzen, zunächst eine prächtige Dur-Tonart über allem zu hören? Gott hat diese Welt gut gemeint, er hat mit der Entstehung jedes Lebens, auch das jedes Einzelnen und meinem, einen Segenshorizont eröffnet. Er hat mich und uns, in der Sprache Luthers, durch Christus gerecht gesprochen, das heißt, uns auf sicheren Grund gestellt. Er lässt Christus seit meiner Taufe mit mir durch das Leben gehen, stärkt mich durch sein Wort und sein Mahl und die Gemeinschaft der Glaubenden.
Mit einem Hosea-Zitat, also aus dem Alten Testament, ruft uns Paulus im 1. Brief nach Korinth seinen Triumphgesang des von Gott bejahten Lebens entgegen:
„Aufgezehrt ist der Tod – in den Sieg hinein.
Tod, wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?“
Unter diesem Vorzeichen kann über den Tod gelacht werden. Im Spätmittelalter war es am Ostersonntag üblich, in der Predigt eine Geschichte zu erzählen, die die Gemeinde zum Lachen brachte. Damit sollte die Osterfreude zum Ausdruck gebracht werden. Etwa so:
Die kleine Julia darf zu Ostern zum ersten Mal mit in die Kirche. Nach dem Gottesdienst fragt der Vater die kleine Julia „Was hat dir am besten gefallen?” Julias Antwort: „Dass alle ‚Hallo Julia’ gesungen haben!!!”
Mit dem Osterlachen sollte die Überlegenheit und der Sieg über den Tod symbolisiert werden, der sich an Christus „verschluckt“ hat und der Lächerlichkeit preisgegeben ist. Der Tod kann uns nichts anhaben, auch wenn sich immer wieder Abgründe auftun.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsre Vernunft, sei mit uns allen.
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Predigt am 2. März 2025 (Sonntag vor Aschermittwoch) in der Versöhnungskirche
Hat Jesus gelacht? Hatte er Humor? Darf man solche Fragen überhaupt stellen? Sind sie vielleicht fast genauso ungehörig wie die Frage, ob Jesus auch erotischer oder sinnlicher Regungen fähig war? Und womöglich haben diese Fragen ja auch etwas miteinander zu tun: denn wer lacht, wer einen Freudenausbruch hat, verliert für einen Moment genauso sehr die Kontrolle über seinen Körper wie jemand, der liebt. Seien wir ehrlich: unser Jesus-Bild hat viele Spielarten, aber ein wesentlicher Bestandteil davon ist doch wohl, dass wir ihn für einen durch und durch ernsten, beherrschten Menschen (Mann?) halten. Und immer steht uns ja auch sein Leiden, sein Gang zum Kreuz vor Augen - und da verbieten sich solche forschen Fragen wie die nach seinem Humor oder gar seiner Sinnlichkeit. Man brauchte nur einmal durch die Geschichte der Kunst zu streifen: Wie sie Jesus dargestellt hat - man wird im Jesus-Bild wenig Lustiges und Sinnliches dabei finden. Vielleicht ist eine der Ausnahmen, wo so etwas wie Gefühl durchschimmert, die Szene, wo Jesus Kinder in die Arme nimmt und sie segnet. Aber das war’s dann schon. Und wir in unserer protestantischen Tradition haben ihn ja noch ernster, noch abgehobener vor uns - zwischen seinem Menschsein und unserem Menschsein klafft eine unendliche Kluft: er war und ist eben der ganz andere, der sündlose Christus, kein Gefühlsmensch. Und so ist auch unser evangelisches Gesangbuch vor allem eine Ansammlung ernsthafter Reime, wo nur gelegentlich mal ein wenig Lebensfreude und Sinnlichkeit hindurchschimmert.
Vielleicht hat das alles seine Berechtigung, dieser unendliche Ernst, der uns von Jesus herüberkommt - und der seine Fortsetzung findet in unseren Gottesdiensten, unseren Predigten, auch in meinen. Sinnlichkeit, Lebensfreude, Humor - das sind keine Bestandteile unseres religiösen Rahmens, auch wenn wir es wohl doch als befreiend erleben, wenn in der Kirche mal herzlich gelacht wird. Die katholische Kirche hat immerhin den Karneval erlaubt. Sie hat bringt den merkwürdigen Spagat fertig, etwa in ihren Verlautbarungen zur Sexualität äußerst konservativ zu sein - und auf der anderen Seite mit dem Karneval, der Fastnacht, aber auch mit ihrer prächtigen Liturgie und den liturgischen Gewändern, ihrer geradezu sinnlichen Marienverehrung doch so etwas wie Buntheit und Lebensfreude in das Christentum aufzunehmen. Doch der Protestantismus ist ernst, Pastoren und Bischöfe sind ernst. Und so werden Barockkirchen bei uns hier oben im Norden immer ganz schnell mit der katholischen Kirche in Verbindung gebracht - so etwas Prunkvolles kann nicht evangelisch sein.
Nun will ich keineswegs behaupten, dass Ernsthaftigkeit, Eingehen auf die Schwere des Daseins und des Glaubens, nicht durchaus seine Berechtigung hat. Wir sind, im Privaten und im Öffentlichen, mit vielem konfrontiert, das eine ernsthafte, sachliche Auseinandersetzung erfordert, von erwachsenen Menschen und keinen oberflächlichen Hallodris. Wie viel Schmerz gibt es, wie viel Leid, wie viele Spannungen, in den Familien beispielsweise oder auch in der Welt. Darüber lässt sich nicht locker-flockig hinweggehen - und der Glaube muss sich und will sich dem stellen. Ein Glaube wie der christliche, der Gottes Weg bis ins Kreuz nachgehen lässt, will über diese Seiten des Lebens nicht hinwegtäuschen, sondern sich mit ihnen auseinandersetzen. Wir verkünden nicht die Botschaft vom dionysischen Gott der Weinseligen, sondern die Botschaft von dem Gott, der uns auch da noch ganz nah sein will, wo unsere Kräfte am Ende sind, wo es nichts mehr zu lachen gibt - bis über den Tod hinaus.
Und doch sei die Frage erlaubt, ob denn dieser Bezug zur dunklen, schmerzhaften, tragischen Seite des Lebens immer berechtigt ist, ja, ob denn damit nicht auch andere Quellen des Lebens verschüttet worden sind oder verschüttet werden: bis hin zu der im Mittelalter ernsthaft diskutierten und häufig verneinten Frage, ob denn ein Christ überhaupt lachen dürfe.
Nun läge es an diesem Sonntag vor dem Aschermittwoch und damit vor der Passionszeit nahe, eine zum Lachen anregende, herzerfrischende Faschingspredigt zu halten, als greifbarer Ausdruck davon, dass auch wir Protestanten, wir Evangelischen etwas zu lachen haben. Ich habe schon manchmal Versuche in dieser Richtung unternommen, aber sie sind eigentlich alle gescheitert - ich bin kein guter Witzeerzähler. Aber ich erinnere mich an einen Fernsehbeitrag: In ihm treten wirkliche Ärzte in einem amerikanischen Krankenhaus als Clowns auf, sie machen Späße vor den kranken Kindern und anderen Patienten, die sich - nicht kaputt-, sondern geradezu gesundlachen. Da herrscht ein Heidenspaß im Krankenhaus (wir sagen Heidenspaß, nicht Christenspaß), aber es hat heilsamere Wirkung als manche Medikamente. Woraus wir schließen können, was wir schon immer wussten: dass Lachen gesund macht. Doch ich verzichte darauf, jetzt eine Pappnase aufzuziehen, und kehre ganz ernsthaft wieder zu meiner Ausgangsfrage zurück, ob Jesus gelacht hat und Humor hatte und etwas von der Kraft der Sinnlichkeit kannte.
Nun, die Evangelien des Neuen Testaments, vielfach in Zeiten der Verfolgung und Bedrängnis geschrieben, berichten uns nichts davon - wenigstens nicht direkt. Sie erzählen schon manchmal von Gefühlen Jesu: dass er über Jerusalem weint, dass er zornig ist über die Verstocktheit der Herzen gerade der Gesetzestreuen, dass er ziemlich barsch mit seiner Herkunftsfamilie umgeht. Solche Gefühle klingen schon gelegentlich durch. Aber immerhin doch auch, dass er ziemlich sarkastisch seine Zeitgenossen angegangen ist: die Pharisäer nennt er unerkennbare, getünchte Gräber, nicht gerade sehr freundlich, auf denen die anderen unwissend umhergehen; den Reichen sagt er, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch geht, als dass sie ins Himmelreich kommen; gerade die Repräsentanten seiner jüdischen Religion nennt er „Heuchler“ oder genauer „Schauspieler“, also Menschen mit einer Maske - ob sie nun Almosen geben oder fasten. Da ist schon Spott im Spiel, eine gehörige Portion Sarkasmus oder vielleicht auch Humor - so wie die Harlekine, die Bänkelsänger und die guten Büttenredner die Mächtigen und Vornehmen auf’s Korn nehmen. Und erinnern wir uns an den Ton der vorher gehörten alttestamentlichen Lesung: Da rechnet Gott durch den Mund des Amos mit dem Kult der Israeliten ab (Amos 5, 21-24). Jesus mag sich in dieser prophetischen Tradition gesehen haben.
Kurzer Ausflug in das aktuelle Weltgeschehen… Wie hätte Jesus reagiert, wenn er mitbekommen hätte, wie Trump vor ein paar Tagen mit dem ukrainischen Präsidenten umgesprungen ist? Eine Zeitung schrieb, er habe eine Haltung an den Tag gelegt wie ein Mafiaboss. Hätte Jesus sich ähnlich geäußert wie neulich die anglikanische Bischöfin Mariann Edgar Budde mit einer direkt an Präsident Donald Trump gerichteten Predigt? Nach der Vereidigung Trumps sprach sie in einem interreligiösen Dankesgottesdienst in der Nationalkathedrale in Washington unter anderem eine Bitte an den mit grimmigem Gesichtsausdruck vorn in der Kirche sitzenden Trump aus: Er möge Mitleid haben mit den „Menschen in unserem Land, die jetzt Angst haben“. Aber die Chancen stehen schlecht, dass Trump auf Jesus gehört hätte. Und seine Reaktion auf die Bischöfin war: Sie sei eine „linksradikale Hardlinerin“.
Zurück zu Jesus:
Obwohl das Neue Testament von etlichen Begegnungen Jesu mit Frauen erzählt, fällt einem auf, wie in der von Männern geprägten Theologie und Geschichte des Christentums diese Momente im Leben Jesu und ihre Praxis im Leben des Christen immer wieder zurückgedrängt worden sind. Vielleicht kann man sagen, dass da eine tiefe Abwehr und das heißt auch Angst gegen alles sitzt, was mit Gefühlen zu tun hat, mit Zärtlichkeit, praller Lebensfreude.
Und männlich so ist ja auch die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium ausgelegt worden, die heute der Predigttext ist: die Geschichte von Maria und Martha (Lukas 10, 38-42).
Ich vermute, wir alle kennen diese Geschichte! Was hat man alles aus ihr gemacht, am schärfsten wohl Luther: „Martha, dein Werk muss bestraft und für nichts geachtet werden...“ Martha wird zur nachgerade Dummen degradiert. Und das sagt ein Luther, der mit Katharina von Bora doch eine Martha in seinem Haus hatte und sie brauchte (und sie dafür ja auch wieder sehr geachtet hat) Typisch Mann, möchte ich ironisch wie ein Büttenredner, wie ein Narr, sagen: die häusliche Tätigkeit der Frau kleinreden („das bisschen Haushalt…“) - und doch gleichzeitig gerne in Anspruch nehmen.
Muss man die Maria-/Martha-Episode so instrumentalisieren, dass man Maria zum Vorbild der zu Füßen Jesu sitzenden gläubigen Frau macht und Martha geradezu für ein bisschen dämlich erklärt? Ganz abgesehen davon, dass in dem anderen neutestamentlichen Text, wo Maria und Martha auftauchen, in der Lazarus-Geschichte des Johannes-Evangeliums, Martha ganz anders geschildert wird und ihr ein Bekenntnis zu Jesus in den Mund gelegt wird, das dem des Petrus im Matthäus-Evangelium gleicht. Beide Texte zeigen etwas von der Wertschätzung der Frauen um Jesus und von der Erinnerung an diese Frauen in den frühen christlichen Gemeinden.
Schauen wir doch noch einmal auf die Szene selbst: Jesus kehrt in das Haus der Martha ein, sie hat ein Haus, in dem auch ihre Schwester Maria lebt, und nimmt ihn auf. Und sie tut doch für den Gast Jesus etwas Richtiges: Sie bewirtet ihn. Und überhaupt: Jesus kehrt bei zwei offensichtlich alleinstehenden Frauen ein, er hat keine Probleme damit. Gehört sich das denn? Und während die eine ihm zu Füßen sitzt, (wir denken natürlich gleich mit: in gehörigem Abstand), ist die andere damit beschäftigt, es dem Gast so angenehm wie möglich zu machen. So weit, so gut.
Erst als Martha sauer darauf ist, dass Maria ihr nicht hilft, kommt es zu der bekannten Antwort Jesu: „Martha, Martha, über so vieles machst du dir Sorgen und lässt dich davon beunruhigen. Dabei ist eines notwendig. Für dieses Richtige hat sich Maria entschieden, und das soll ihr nicht weggenommen werden.“ Ich finde, Jesus geht auf Martha ein, wie es ein einfühlender Psychologe nicht besser machen könnte: Er fühlt sich in sie ein, nimmt ernst, was sie tut - und wenn er dann sagt, Maria habe das gute Teil erwählt, dann kommt mir das so vor, als wolle er vor allem korrigieren, dass Martha neidisch ist auf ihre Schwester, weil sie gefangen ist von dem Gedanken, dass eine ordentliche Bewirtung für Jesus wichtiger ist, als ihm zu Füßen zu sitzen und ihm zuzuhören. Martha bleibt in ihrer Rolle als Gastgeberin gefangen. Und da sagt Jesus, in moderner Sprache ausgedrückt: Martha, was du tust, ist okay, aber heute hat Maria das gute, das bessere Teil erwählt. Und wir sollten vielleicht einmal bedenken, daß die Beschäftigung mit dem Wort Gottes im Judentum Männern vorbehalten war, und auch auf diesem Hintergrund hat Maria das gute Teil erwählt, während das andere Teil, die Frauenarbeit im Haushalt, schon immer Frauensache gewesen ist.
Dass die Wirkungsgeschichte der Erzählung so weiterging, dass man zwei Typen von Frauen, einem besseren und einem schlechteren, daraus abgeleitet hat, ist verhängnisvoll. Alle statischen Einteilungen der Welt in Gut und Böse verkennen die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit. Ich erinnere nur daran, wie im Bundestagswahlkampf pauschal von „den“ Migranten gesprochen wurde.
Das Geschwisterpaar Maria und Martha wurde aufgespalten. Von Luther bis zu modernen Auslegern ist Maria das Bild eines Menschen, der durch das Hören des Wortes gerecht und gut vor Gott wird. Anders Martha: Sie wurde auf Küche und Haushalt festgelegt. Sie wurde Patronin der Hausfrauen und Köche und man gab ihr mit dem 29. Juli einen Heiligentag. Weil sie praktisch veranlagt war, wurde ihr auch noch die Krankenpflege zugordnet. Kirchen wurden nur selten mal nach ihr benannt.
Verkörpert Maria das nachdenkende, kontemplative Christentum, so verkörpert Martha das aktive Christentum. Aber vor allem in der evangelischen Tradition wird dieses Christentum abgewertet als Sinnbild für Werkgerechtigkeit. Das änderte sich erst mit dem Heraufkommen der Diakonischen Werke.
Die Bibel schweigt darüber, wie es nach der geschilderten Maria-/Martha-/Jesusepisode weitergegangen ist. Ich phantasiere mich in die Geschichte und stelle mir vor, dass nach Jesu einfühlsamen Eingehen auf Martha diese ihre Hausarbeit erst einmal zurückgestellt und sich dem im Augenblick tatsächlich Wichtigerem zugewandt hat: Dem Zuhören Jesu. Erst einmal hat sich auch Martha Jesus zu Füßen gesetzt, und sie haben über das Reich Gottes, über das Neue, das es bringen wird, über die Veränderung der hergebrachten Verhältnisse, auch im Rollenverhalten von Männern und Frauen gesprochen: hitzig, engagiert, manchmal auch lustig, mit hochroten Köpfen. Und dann sind alle drei in die Küche gegangen, haben angepackt, aufgedeckt, ein Fläschchen Wein stand auf dem Tisch (wir hörten doch von Jesus als Weintrinker, und wir kennen seine Geschichten, die mit Wein zu tun haben), und dann lagen die drei nach orientalischer Sitte bei Tisch, haben geschmaust und getrunken und munter weiter diskutiert. Wo ist der Künstler, der uns das malt (nicht kitschig, versteht sich)? Oder ist uns das schon zu sinnlich - zu weit weg vom Bild des ernsten Jesus?
Meine Ausmalung dieser Geschichte sollte es nun vollends deutlich gemacht haben: Ich bin sicher, dass Jesus auch gelacht hat und dass er die sinnlichen Züge des Lebens auch gekannt hat. Lachen heißt nicht: nur lachend oder gar lächelnd über alles hinwegsehen. Sinnlichkeit heißt nicht: die anderen zum Objekt seiner Begierden machen. Lachen führt zu einer Lebenseinstellung, die die Fülle des Lebens bejaht, ohne über seine dunklen Seiten hinwegzusehen.
Nicht lange nach Jesus wird Paulus sich als „Narr in Christus“ bezeichnen, als einen Clown für Gott in einer absurden Welt. Diese Narrenschaft, die auch die Gabe des Lachens und des andere zum Lachen Bringens in sich schließt, kann man nicht herbeibefehlen. Ich erlebte einmal, wie ein englischer Vater seine Familie vor einem dänischen Schloß aufbaute und in barschestem Befehlston sagte: „Smile now!“ „Lacht jetzt!“- und wir wissen, was für Bilder dabei herauskommen. Das Lachen und die Sinnlichkeit können nur von innen kommen. Unser Wort Humor stammt daher, dass man annahm, es seien Körpersäfte, Humores, die zu der Heiterkeit, die wohlwollend und gutmütig ist, führen. Ob Körpersäfte oder nicht, schön wäre es schon, wir Christinnen und Christen würden diese guten Gaben Gottes, von denen ich gesprochen habe, mehr hindurchschimmern lassen. Auch in schwierigen Zeiten!